Ukrainische Flüchtlinge bringen Reutlinger Tafel an den Rand der Kapazitäten, aber: Große Spendenbereitschaft sorgt für ausreichend Waren für alle Kundinnen und Kunden
„Ich will zurück in die Ukraine, sobald es geht, morgen, heute, sofort“, sagt die 40jährige Natalia vor kurzem vor der Reutlinger Tafel. Die Erschütterung ist ihr deutlich anzumerken, als sie über den Krieg in ihrer Heimat berichtet. „Die Kinder hatten immer Angst vor Alarm und wenn wir in den Keller mussten.“ Doch auch hier in Reutlingen würden die Kinder stets, wenn sich ein Hubschrauber nähert, fragen: „Ist jetzt hier auch Krieg?“ Die Lehrerin beschreibt die Traumata der Geflüchteten und dann treten ihr selbst die Tränen in die Augen. Einst war Natalia als Aupair in Deutschland, deshalb spricht sie so gut Deutsch. Ihre Heimat ist aber in der Stadt Lwiw, keine 100 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt.
Auch diese westlichste Stadt der Ukraine wurde schon mehrfach bombardiert – aber lang nicht so intensiv wie die Städte im Osten. Charkiw, Mariupol oder auch Kramatorsk, wo vor wenigen Tagen der Bahnhof bombardiert wurde. Hunderte Menschen hatten an den Bahnsteigen auf einen Zug in Richtung Westen gewartet, gekommen ist eine Rakete, die für Dutzende den Tod brachte. Eine Frau neben Natalia stammt aus eben jener Stadt Kramatorsk, sie berichtet, dass „mein Sohn in Mariupol war, er durfte nicht nach Westen fliehen“. Stattdessen wurde er nach Russland verschleppt.
Natalia übersetzt die Worte ihrer Landsleute – und damit auch deren Leid und Verzweiflung. Die 40-Jährige ist bei einem Bekannten in Reutlingen untergekommen. „Ich würde mit meiner Tochter sofort zurückgehen, aber mein Mann in Lwiw sagt, ich soll erst mal in Sicherheit bleiben“. Die studierte Lehrerin kauft in der Reutlinger Tafel ein, weil ihre finanziellen Mittel begrenzt sind. Obwohl sie schon seit drei Wochen hier ist und sich längst bei den Behörden gemeldet hat, erhielt sie noch keine finanzielle Unterstützung. Der entsprechende Antrag, so berichtet sie, sei noch nicht bei ihr angekommen – wie bei vielen anderen auch nicht.
Dr. Joachim Rückle weiß als Geschäftsführer des Reutlinger Diakonieverbands um die Bemühungen des Landratsamtes, das Verfahren zu beschleunigen und in dringenden Fällen bestehe die Möglichkeit, sich wegen eines Vorschusses direkt an das Amt zu wenden. Derweil werden in der Reutlinger Tafel täglich zehn bis 15 neue Berechtigungsausweise ausgestellt. „115 waren es bisher“, sagt Gisela Braun, die zusammen mit Karin Schenk hauptamtlich die Tafel leitet. „Durchschnittlich kommen jetzt zwischen 90 und 105 Kunden täglich, vor Kriegsbeginn in der Ukraine waren es 70 bis 80“, so Braun. Dabei seien 100 Kunden täglich eigentlich das Maximum. Mehr gehe nicht. Und mehr als 20 Ehrenamtliche pro Öffnungstag einzusetzen, sei allein schon aus räumlichen Gründen nicht möglich. Schließlich sei die Pandemie noch nicht vorbei. „Wir haben zwar 70 Ehrenamtliche, aber manche sind schon mit Corona infiziert“, sagt Gisela Braun.
„Extrem positiv ist jedoch“, so Gisela Braun, „dass viele Privatspender dem Aufruf der vergangenen Wochen gefolgt sind und Lebensmittel gespendet haben“. Das sei umso wichtiger, weil die Menge an überschüssigen Waren aus den Supermärkten seit einiger Zeit deutlich zurückgehen. Zu Neid oder Missgunst zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen der Tafelkunden kam es nach den Worten der Tafelleiterin bisher nicht. „Die Nicht-Ukrainer merken ja auch, dass das Angebot nur deshalb so groß ist, weil gerade so viel gespendet wird“, betont die Tafel-Leiterin. Dass alle jetzt mal an die zwei Stunden warten müssen, werde akzeptiert.
Dabei sei es für die ukrainischen Kunden nicht so ganz verständlich, was eine Tafel überhaupt ist. Die Verständigungsschwierigkeiten seien groß, wenn sich auch fast immer jemand findet, der Deutsch oder Englisch spricht und übersetzen kann. „Viele Ukrainer denken erst mal, das ist ein normaler Supermarkt.“ Der Andrang ist gerade jetzt riesengroß „Ab Mai werden wir ausprobieren, dass alle Kunden nur noch zweimal pro Woche einkaufen können“, sagt Rückle. „Wir hoffen, dass diese Maßnahme Entlastung für die Tafel bringt.“ Spenden würden im Übrigen auch weiterhin gebraucht. Und welche? Gisela Braun fängt an aufzuzählen: „Mehl, Reis, Kartoffeln, Schnittkäse, Konserven, alles, was lang haltbar ist, Zucker, Müsli, Hygieneartikel …“