Die Sehnsucht, gesehen und gehört zu werden

Reutlinger Vesperkirche endet nach vier Wochen mit einem Festgottesdienst in der St. Wolfgangkirche und der Ausgabe von täglich mehr als 400 Mahlzeiten

Jörg Mutschler hat am letzten Ausgabetag der Reutlinger Vesperkirche die Probe aufs Exempel gemacht: In der Zeit zwischen 11 und 13 Uhr hat er eine halbe Stunde lang die Menschen und die ausgegebenen Vespertüten gezählt: „Innerhalb der 30 Minuten, sind 100 Gäste hier angestanden, 75 von ihnen haben zwei Tüten genommen, drei sind mit drei Tüten gegangen und 22 mit einer.“ Kein Wunder, dass die Zahlen der ausgegebenen Mahlzeiten dieses Jahr so drastisch in die Höhe geschnellt sind, wenn drei Viertel zwei Tüten nehmen? Haben denn wirklich alle Gäste die zweite oder dritte Tüte an Freundin, Nachbarn, Verwandte weitergegeben? „Ich bin nicht der Richter, der darüber zu befinden hätte“, sagt Vesperkirchenpfarrer Jörg Mutschler.

Dekan Hermann Friedl zog in der Predigt beim Schlussgottesdienst in der St. Wolfgangkirche ein ebenso eindeutiges Fazit: „Schubladendenken und Vorurteile zerstören das Miteinander in der Gesellschaft.“ Auch arme Menschen hätten Sehnsucht – nicht nur nach einer warmen Mahlzeit, sondern auch „nach Nähe, Geborgenheit, nach dem Mehrwert des Lebens“. Kathrin Haaga, die als Sozialarbeiterin während der vier Wochen immer wieder vor der Nikolaikirche anwesend war, berichtet aus ihren Gesprächen mit den Bedürftigen: Keine einzige Person unter all den Menschen stehe dort, weil es ihr gut geht, betont sie. „Jeder Mensch hier hat seine eigene Geschichte, sein individuelles Schicksal – aber die Bedürfnisse sind fast immer die gleichen“, sagt Haaga. Eine warme Wohnung, ausreichend zu essen, die Möglichkeit, Freunde einzuladen. Und noch viel mehr: Gesehen und gehört, ernst genommen zu werden. Woran es aber oftmals hapere. In den zurückliegenden vier Wochen hat die Sozialarbeiterin viel über die Not der Menschen in der Stadt erfahren. Etwa über eine Rentnerin mit ganz wenig Rente, ihr wurde gekündigt, wegen Eigenbedarf. „Wo soll die Frau hin, so eine günstige Wohnung kriegt sie hier nicht mehr“, sagt Haaga.

Oft gehe es um existenzielle Ängste, ums pure Überleben. Und sei es, bei der Ausgabe von Masken, 5000 Stück wurden vor der Vesperkirche kostenlos verteilt. „Günstige Masken kosten vielleicht 80 Cent und hier sind ganz viele Menschen, die können sich das nicht leisten.“ Ebenso wenig wie Medikamente. „Arme dürfen deshalb einfach nicht krank werden.“ Richtig wütend könne die Sozialarbeiterin werden, wenn sie von Wohlhabenderen hört: „Die Armen sollen doch arbeiten gehen, die sind doch selbst schuld an ihrem Schicksal.“ Dem widersprach auch Dekan Friedl währen des Gottesdienstes gestern Nachmittag: „Wie oft sind Menschen durch allzu widrige Umstände in ihr Schicksal geraten.“

Gut sei es, sind sich all die Ehrenamtlichen am letzten Öffnungstag einig, dass für dieses Jahr die Vesperkirche zu Ende ist. Die meisten Freiwilligen, die viele Tage mitgeholfen haben, kommen auf dem sprichwörtlichen Zahnfleisch daher. „Die Situation war oft unerträglich, wenn um 12 Uhr 15 schon keine Tüten mit Mahlzeiten mehr da waren“, sagt Jörg Mutschler. Mehr als 400 Tüten sind dann innerhalb so kurzer Zeit ausgegeben worden. Insgesamt waren es dieses Jahr mehr als 11 000 Mahlzeiten. 23 000 Vesperbrote und -brötchen. 15 000 selbstgebackene Kuchen- und Gebäckstücke. Waren nach einer guten Stunde die aufzuwärmenden Mahlzeiten alle ausgegeben, wurden auf die Schnelle noch reine Vespertüten gepackt, mit Brötchen, Brot, Wurst und Käse. „Das war Stress pur“, sagt Ulrich Soulier. Damit laut Mutschler die Menschen nicht ganz ohne Essen wieder gehen mussten. Dazu seien die Einstellungen unter den Ehrenamtlichen nicht einheitlich gewesen – manche hätten gesagt, wenn die Mahlzeiten verteilt waren, dann gebe es halt nichts mehr. Aber, so der Vesperkirchenpfarrer: „Schließlich lautet die Jahreslosung nicht umsonst: ‚Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen‘ – passender könnte es für die Vesperkirche nicht sein“, sagt Jörg Mutschler.

Dr. Joachim Rückle berichtet, dass dieses Jahr Mehrkosten von rund 15 000 Euro anfallen werden, aufgrund des Mehrbedarfs an Mahlzeiten, Brötchen, Käse, Wurst. „Ein besonderer Dank geht an die Bruderhaus-Großküche“, betont Soulier aus dem Leitungskreis der Vesperkirche. Die Zusammenarbeit habe einmal mehr völlig problemlos funktioniert. „Wenn ich angerufen habe, ich brauche 2000 Handschuhe, dann waren die am nächsten Tag ebenso da wie alles andere, was wir benötigt haben“, so Soulier. Und Doris Beck sagte: „Mal sehen, ob ich mit meinen fast 82 Jahren nächstes Jahr noch mal ehrenamtlich dabei sein kann.“