Reutlinger Vesperkirche startete am Sonntag mit einem Festgottesdienst in der Reutlinger Marienkirche. Tütenabholung vor der Nikolaikirche.
„Herzlich willkommen, liebe Sympathisanten der Reutlinger Vesperkirche“, begrüßte Jörg Mutschler am Sonntag die Anwesenden in der Marienkirche. Dort startete die 24. Vesperkirche mit einem Festgottesdienst, bekannt ist mittlerweile, „dass dieses Jahr wesentliche Teile fehlen werden, die Vesperkirche ausmachen“, betonte Mutschler als Vesperkirchenpfarrer. Die Begegnungen, die allen Gästen über all die Jahre hinweg so wichtig waren, sind dieses Jahr aufgrund der Corona-Abstandsregeln nicht möglich. „Das ist sehr schade, dass es dieses Jahr so anders ist“, sagte wie zur Bestätigung ein Mann später vor der Nikolaikirche, als er zwei Tüten abholte.
Denn: Tüten sind die diesjährige Vesperkirche. Oder anders ausgedrückt: „Dieses Jahr gibt es die Vesperkirche zum Mitnehmen“, so Mutschler. „Ein warmes Essen, Nachtisch, Vesper, etwas Süßes, ein Getränk und ein gutes Wort“ auf einer Karte – all das ist nach den Worten von Prälat Dr. Christian Rose in der Vesperkirchen-Tüte mit drin. Das Einzige, was die Empfänger tun müssen: Die Tüte vor der Nikolaikirche abholen. Oder sich eine mitbringen lassen. „Macht Vesperkirche zu eurer Sache“, forderte Mutschler auf. „Diejenigen, die nicht kommen können, sollen mitversorgt werden – das ist die Antwort auf Resignation und Gleichgültigkeit.“
Auch wenn „das besondere Gasthaus“ in der Reutlinger Wilhelmstraße in diesem Jahr nicht wie gewohnt geöffnet sein wird – „immerhin müssen sich manche Menschen dann vier Wochen lang keine Sorgen ums Essen machen“, so Rose. Für manche Menschen möge dieser Gedanke fremd sein, „für andere ist es ein großes Wunder, wenn sie täglich ein warmes Mittagessen haben können“, betonte Reutlingens Prälat. Grundsätzlich „ist es immer noch eine traurige Nachricht, dass es Vesperkirchen braucht, aber es ist auch ein Segen, dass es sie gibt“, sagte Dr. Rose. Doch er ging auch auf die Pandemie ein, auf die weltweit niedergeschlagene und deprimierte Stimmung, aber: „Es ist doch schon ein kleines Wunder, dass es so schnell Impfstoffe gibt.“ Dennoch sei nun weiterhin „Besonnenheit und Geduld gefragt“. Der Gottesdienst am gestrigen Sonntag sei doch immerhin „ein kleines Zeichen der Hoffnung“ und so werde auch „ein kleines Zeichen der Zuversicht in die Tüten der Vesperkirche gepackt“, so Christian Rose.
Auch Thomas Keck nahm als Reutlingens Stadtoberhaupt die Tradition auf und sprach ein Grußwort zum Beginn der Vesperkirche. Er bedauere ebenfalls sehr, dass „Begegnung, das Kulturangebot und Haareschneiden dieses Jahr in der Nikolaikirche nicht möglich sind – der Grundgedanke ist aber der gleiche wie all die Jahre zuvor“. Nämlich: Solidarität mit den Schwächsten in der Gesellschaft. Dabei sei offensichtlich, dass „die Schere zwischen Arm und Reich sehr weit auseinanderklafft.“ Die Pandemie zeige jedoch, dass „die Gesellschaft solidarisch sein muss“, so Keck. Und die Engagierten, die Vesperkirche mit ihrem beeindruckenden Einsatz erst ermöglichen, sorgen dafür, „dass eine Versorgungslücke geschlossen wird“, so Keck.
Als Dr. Joachim Rückle symbolisch das Brot in der Marienkirche brach, war damit die Vesperkirche offiziell eröffnet. Zu dem Zeitpunkt waren die eingeschweißten Essen mit Rinderbraten und Gemüse schon von der Bruderhaus-Diakonie-Küche abgeholt und die Tüten in der Nikolaikirche bereits von den Ehrenamtlichen vorbereitet worden. „Wir rechnen zunächst mal mit 200 Mahlzeiten pro Tag“, hatte Rückle als Geschäftsführer des Diakonieverbands wenige Tage zuvor gesagt. Zur Finanzierung der diesjährigen Tütenaktion waren ungefähr so viele Spenden eingegangen wie die Jahre zuvor, so Rückle. Wie hoch die Kosten in diesem Jahr sein werden, sei noch nicht klar. „Das hängt von der Nachfrage ab, die mit Sicherheit auch wetterabhängig sein wird“, sagte Joachim Rückle.
So wie gestern auch: Durch den heftigen Schneefall haben wohl einige Abholer den Gang vor die eigene Wohnungstür nicht gewagt. Während in normalen Vesperkirchenzeiten nach den Worten von Gisela Braun rund 20 Ehrenamtliche täglich die anfallenden Arbeiten erledigt hatten, „werden nun wohl zehn bis vierzehn täglich ausreichen“, so Braun. In der Nikolaikirche werde dabei sehr wohl an die Sicherheit der Freiwilligen gedacht: Die Möglichkeit, Fieber zu messen, ist laut Rückle vorhanden, ein Belüfter sorge für Frischluft und FFP2-Masken sind Pflicht in dem Kirchenraum.