„Wir haben lange diskutiert und lange gerungen“, berichtete Dr. Joachim Rückle am gestrigen Dienstagvormittag beim Pressegespräch zur Vesperkirche im kommenden Jahr. Treffpunkt war in der Reutlinger Nikolaikirche – also in genau jenem Raum, der bislang über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg der Ort war, in dem Menschen sich in der kalten Jahreszeit getroffen und aufgewärmt haben, in der Begegnung zwischen Menschen aller Schichten möglich war. „Das wird im kommenden Jahr nicht möglich sein“, betonte der Geschäftsführer des Diakonieverbands beim Pressegespräch. Und damit werde auch ein wesentlicher Teil wegfallen, der Vesperkirche ausmacht, wie Jörg Mutschler ausführte.
Corona macht der gewohnten Durchführung „des besonderen Gasthauses“ einen Strich durch die Rechnung. Viel zu wenig Platz sei laut Rückle in der Nikolaikirche, um mit Sicherheitsabstand das tägliche Essen wie gewohnt einnehmen zu können. Begegnung und Unterhaltungen wären auf Distanz kaum möglich. „Die Frage, die uns umtrieb, war immer die, was ist verantwortbar – unseren Gästen wie auch unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber“, führte Mutschler als Vesperkirchenpfarrer aus. Viele der Freiwilligen der vergangenen Jahre gehören Risikogruppen an, viele hätten nach den rund 300 Anfragen von Gisela Braun abgesagt oder betont, dass sie nur im Notfall einspringen würden.
Aber: „Wir haben jetzt schon rund 150 Ehrenamtliche, die bereit sind, wieder mitzuarbeiten“, so Braunaus dem Leitungskreis der Vesperkirche. Die Anzahl der Freiwilligen reiche aus, um die Vespertüten zu richten, die Gäste werden vor der Nikolaikirche das „Essen to go“ erhalten – in die Kirche hinein werden sie aber nicht kommen. Und das bedeutet auch, dass die Toiletten nicht benutzt werden können, wie Joachim Rückle betonte. „Wir brauchen da eine klare Linie.“ Und wie der Inhalt der Tüten aussieht? Wurst- und Käsebrote, ein Rührkuchen oder ähnliches, ein Getränk und ein Essen zum Aufwärmen, wie Dorothea Fecker-Kuon betonte. „Wenn Privatleute wieder Kuchen spenden wollen, dann sollten das trockene sein – nichts Nasses“, waren sich Fecker-Kuon, Braun und Jutta Kuhk aus dem Leitungskreis einig. Das Essen werde wie immer von der Bruderhaus-Diakonie-Kantine angeliefert – dieses Mal allerdings zwischen dem 17. Januar und dem 14. Februar 2021 „zum Aufwärmen und in kompostierbaren Schalen“, so Fecker-Kuon. Geplant seien anfangs 200 Essen, „wir werden sehen, wie sich das weiterentwickelt“, sagte Kuhk. In den vergangenen Jahren waren es durchschnittlich 300 Mahlzeiten pro Tag.
Ebenfalls in der Vespertüte enthalten sein wird laut Mutschler „ein ermutigendes Wort“, denn: „Wir wollen ja keine Armenspeisung, sondern Nahrung für Leib und Seele bieten.“ Weil die Seele im kommenden Jahr etwas zu kurz komme, soll zumindest durch die kleine Beigabe in der Tüte den Menschen Mut zugesprochen werden. „Natürlich bleibt das unbefriedigend“, so der Vesperkirchenpfarrer. Um die Verteilung in geregelten Bahnen zu gewährleisten, „sind wir mit der Stadt in Kontakt, denn wir wissen ja nicht, „ob sich lange Schlangen bilden“, sagte Rückle. Werden Abstand und Maskenpflicht eingehalten, „was passiert, wenn die Menschen ihre Tüten erhalten haben“, stellte Joachim Rückle ein paar Fragen, auf die es noch keine Antwort gibt.
Der Start zur 24. Reutlinger Vesperkirche erfolgt wie gewohnt mit einem Gottesdienst – dieses Mal allerdings in der Marienkirche. Vier Kulturabende sind wie gewohnt geplant, darunter erneut Tante Friedas Jazzkränzchen am 28. Januar. Ein Abend mit Diskussion zum Thema „Armut in einer reichen Stadt“ ist am 21. Januar geplant, mit einem Referat von Oberbürgermeister Thomas Keck. Ein Konzert der Wood, Wind and Wire Band steht am 11. Februar auf dem Programm – das Problem bei allen Veranstaltungen sei allerdings: „Wir wissen noch nicht, wo sie stattfinden“, so Rückle.
Die Entwicklung mit den weiteren Infizierungszahlen könne eventuell auch allen Vorhaben einen Strich durch die Planung machen. Und was, wenn das Wetter schlecht sein sollte? Womöglich mit Regen, Schnee? Womöglich werden laut dann weniger Menschen kommen, um die Tüten zu holen, spontane, kreative Lösungen könnten dann aber vielleicht auch helfen. Der Spendenstand im Vergleich zu den Vorjahren? „Deutlich weniger“, sagte Gisela Braun. „Wir hoffen, dass das noch anzieht.“
Womöglich würden nicht unbedingt die rund 110 000 Euro der vergangenen Jahre gebraucht, „es gibt aber zusätzliche Ausgaben für Plexiglasscheiben und ähnliches“, so Jutta Kuhk. Und die Essen müssten ja trotz alledem bezahlt werden. Klar sei laut Mutschler jetzt schon: „Der Winter wird hart und bitter für die Armen in der Gesellschaft.“ Sein Appell an die gesamte Bevölkerung: „Augen auf für die Armen in der Stadt.“ Alle sollten laut Rückle auch in der Nachbarschaft schauen, „wen man mit einer Vespertüte unterstützen könnte“.
INFO:
Spenden und weitere Informationen
Wer für die Vesperkirche spenden möchte, kann dies über die Kreissparkasse Reutlingen tun, mit der IBAN: DE18 6405 0000 0100 0230 73. Weitere Informationen 24. Reutlinger Vesperkirche gibt es beim Diakonieverband (Tel: 07121-94860) oder mobil: 0151-72683317 (Gisela Braun) sowie auf der Homepage www.reutlinger-vesperkirche.de.