Zwischenbilanz in der Reutlinger Vesperkirche nach gut zwei Wochen Öffnungszeit
Um Punkt 12 Uhr wird es plötzlich sehr still in der Reutlinger Vesperkirche. Nur noch ganz vereinzelt ist ein Klappern einer Gabel oder eines Messers auf einem Teller zu hören. Ansonsten kehrt eine Ruhe ein, wie sie ansonsten nie zu vernehmen ist in den Stunden zwischen 10 Uhr und 15 Uhr. An diesem Mittwoch hält Dr. Joachim Rückle die „Gedanken zum Tag“, wie Vesperkirchen-Pfarrer Jörg Mutschler die tägliche kleine Andacht zur Mittagszeit nennt. Rückle erzählt von den Tieren, die sich auf der Arche Noah begegnen, von geduldigen Lämmern und fleißigen Bienen, aber auch von faulen Siebenschläfern. „Es ist nicht immer ganz einfach, das auf der Arche auszuhalten“, so der Geschäftsführer des Diakonieverbands. Aber: „Ich selbst bin ja auch manchmal ein ziemlich seltsamer Vogel“, schließt der Pfarrer. Nach dem „Amen“ wird es in Windeseile wieder deutlich lauter.
Zuvor hatten Mutschler, Rückle, Vikar Luca Bähne und Birgit von Vacano aus dem Leitungskreis ein Zwischenfazit der diesjährigen Vesperkirche gezogen. „Same procedure as every year“, sagt Jörg Mutschler. Das Gleiche wie jedes Jahr – in den ersten Tagen kamen rund 250 Besucher zum Essen. „In den letzten Tagen waren es jeweils zwischen 350 und 400 Mahlzeiten, die wir ausgegeben haben.“ Bei 80 Sitzplätzen im Kirchenraum bedeutet das: Langes Verweilen an den langen Tafeln ist nicht möglich, „ich muss immer mal wieder darauf hinweisen, dass man sich nach dem Essen doch nach oben auf die Empore begeben soll und dort Kaffee und was Süßes kriegen kann“, so Mutschler.
Das System mit den „Spendenboxen“ auf den Tischen habe sich bewährt, auch Bedienung der Gäste, betont der Vesperkirchenpfarrer. „Immer wieder wird nicht nur das Essen gelobt, sondern auch, dass die Besucher wie in einem richtigen Gasthaus bedient werden.“ Die Befürchtung, dass die Boxen abends völlig leer sein könnten, sei unbegründet gewesen: Tatsächlich „gibt jeder, was er geben kann und will“. Einen Einbruch der Essenszahlen jeweils mittwochs habe es ebenfalls nicht gegeben: Die Neuerung, dass jeden Mittwoch vegetarische Essen serviert werden, machte sich laut Joachim Rückle nicht bemerkbar. Auch das könnte ein Zeichen dafür sein, „dass die Menschen hier nicht nur körperliche Nahrung zu sich nehmen, sondern auch einfach unter Leuten sein wollen“, sagt Vikar Luca Bähne, der einen Tag zuvor zum ersten Mal in der Vesperkirche als Ehrenamtlicher geholfen hatte. Einsamkeit sei also auch ein gewichtiger Grund, um in die Vesperkirche zu kommen. Weil die Zahl der sogenannten Solidaresser zurückgegangen ist, bleibt nur die Schlussfolgerung, dass die Anzahl der Ärmeren in einer reichen Stadt zunahm, so Rückle. „Es wäre schön, wenn wieder mehr Menschen ihre Solidarität mit den Armen zeigen würden“, betont der Geschäftsführer des Diakonieverbands.
Ein deutliches Plus wurde hingegen in der Vesperkirche bei den Schülern und Azubis verzeichnet, die sich ehrenamtlich einbringen: „Es gibt hier die verschiedenen Gesichter der Armut zu entdecken“, sagt Jörg Mutschler. Besonders für die jungen Helfer „erweitern hier ihren ungemütlichen Erfahrungshorizont“. Erfreulich sei, wie die Jugendlichen damit umgehen. „Manche der Jungen sagen, dass das sehr spannend ist“, so der ehemalige Hohbuch-Pfarrer. „Und manche kommen im nächsten Jahr wieder und wollen helfen.“ Wichtig sei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Vesperkirche, „dass wir hier Begegnungen schaffen, das ist keine Armenspeisung“, betont Mutschler. Es gehe auch um den „Hunger nach Wertschätzung – da ist ein großer Bedarf vorhanden“.
Birgit von Vacano ist in diesem Jahr neu im Leitungskreis dabei. Ihre Eindrücke: Es sei faszinierend, „wie hier jedes Jahr wieder aus dem Stand heraus ein funktionierender Betrieb geschaffen wird, der von heute auf morgen 250 Essen verteilen kann“. Sie lobt die besondere Atmosphäre unter den rund 300 Ehrenamtlichen, die helfen und mit Begeisterung dabei seien. „Es ist toll, was hier an Logistik entwickelt wurde“, so von Vacano. Herausragend sei aber auch das Engagement der Schülerinnen und Schüler der Kerschensteinerschule: Die angehenden Friseurinnen und Friseure haben „großartig mit tollem Engagement hier die Leute frisiert“. Gleiches gelte auch für eine Masseurin, die den Vesperkirchenbesuchern ihre Dienste angedeihen ließ.
Und die Gäste selbst? Was sagen sie? „Danke, dass es euch gibt“, ist nur eine von zahlreichen positiven Äußerungen, die im roten Gästebuch zu finden sind. „Herr Mutschler ist mein Liebling“, hat ein Kind geschrieben und „großes Lob an das Essen, es hat gut geschmeckt“, schrieb eine andere Person.“ Also alles gut und toll? Es gibt auch andere Momente, berichtet Jörg Mutschler. Vor ein paar Tagen waren „ein paar Hiesige da, die wollten Zoff mit Migranten anfangen und sie aus der Vesperkirche vertreiben“, sagt der Pfarrer. Er sei eingeschritten und hat sofort am nächsten Tag ein Plakat aufgehängt, das besagt, dass in der Vesperkirche kein Platz für Rassismus ist. „Das ist hier ein Übungsfeld für Respekt, Toleranz und Würde“, betont auch Joachim Rückle. „Was sehr schön ist: Wir haben mittlerweile auch einige Moslems unter den Helfern und obendrein zahlreiche Migranten als Gäste“, sagt Mutschler. Flüchtlinge, die ebenfalls herzlich willkommen wären, kommen aber eher nicht. „Ein Mensch aus Nigeria kann vielleicht mit unseren Essgewohnheiten nicht wirklich was anfangen“, überlegt Jörg Mutschler und denkt dabei an einen Schweinebraten mit Spätzle und Soß.