Zeit zum Zuhören und Helfen

Mitarbeiterinnen der "Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung" berichten über ein Jahr Erfahrung

Die Zahlen sind beeindruckend: Im ersten Halbjahr zwischen Juli und Dezember vergangenen Jahres haben Iris Loehrke, Andrea Meyle und Julia Schäfer insgesamt 154 Beratungsgespräche mit knapp 60 Ratsuchenden geführt. Zwischen Januar und Juni 2019 haben sich die Zahlen nahezu verdoppelt: 300 Beratungsgespräche, bei denen fast 100 Personen den Rat der drei Fachfrauen gesucht hatten. „Die enorme Zunahme beweist, dass der Bedarf nach dieser Teilhabeberatung ganz offensichtlich vorhanden ist“, sagte Dr. Joachim Rückle als Geschäftsführer des Reutlinger Diakonieverbands. Eine Konkurrenz zu den anderen, bereits bestehenden Beratungen sei die EuTb aber nicht.

Noch viel beeindruckender als die Zahlen sind jedoch die Berichte von Betroffenen, also von Ratsuchenden, denen geholfen wurde. Gisela Ehni etwa erläuterte am Montag den beiden anwesenden Bundestagsabgeordneten Beate Müller-Gemmeke (Grüne) und Michael Donth (CDU): „Ich bin Analphabetin, mein Mann ist schwer krank und ich tue mich mit Behörden einfach schwer.“ Über die Sozialberatung ist Ehni zur EuTb, also zur „Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung“, gekommen. Vor einem Jahr wurde diese Art der zusätzlichen Beratung unter dem Dach des Diakonieverbands installiert, um im Rahmen der Umsetzung des „Bundesteilhabegesetzes“ Menschen mit Beeinträchtigungen mehr Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen.

Gisela Ehni berichtet weiter, dass ihre Beraterin Julia Schäfer dabei hilft, mit den Behörden wie Jobcenter, Krankenversicherung oder auch dem Stromanbieter klarzukommen. Alles im Leben habe mit Formularen zu tun, sagt Ehni. „Ohne die Diakonie ging bei mir gar nichts mehr“, sagt die Frau und ist den Tränen nahe. „Zuhören und austauschen ist ganz wichtig“, betont auch Schäfer.

Das Paar Baegerau hat ebenfalls positive Erfahrungen mit der EuTb gemacht: Olga Baegerau leidet seit 18 Jahren unter Multipler Sklerose (MS), ihr Mann Steffen hat sich in den vergangenen Jahren um alles im Haus gekümmert. „Ich arbeite in Kontischicht und kann dadurch relativ viel zuhause sein“, sagt der Industriemechaniker. Sich Hilfe zu holen, auch mit den zwei kleinen Kindern, wollte Olga Baegerau lange Zeit nicht. „Ich habe immer Angst gehabt, durch die Hilfe einen Stempel aufgedrückt zu kriegen“, sagt sie. Dass dem Paar eine Haushaltshilfe und auch Kinderbetreuung zusteht, „das haben wir gar nicht gewusst“. Andrea Meyle hat dem Paar in vielerlei Hinsicht weitergeholfen, auch finanziell. „Und sie hat uns Mut gemacht“, freuen sich Olga und Steffen Baegerau. Das sei auch dringend notwendig gewesen, denn: „Ich komme langsam an meine Grenzen“, sagt der gelernte Industriemechaniker.

„Wir wussten, dass der Diakonieverband am besten geeignet ist, diese unabhängige Beratung anzubieten – weil dort keine Interessenkonflikte aufkommen“, sagt Rose Henes von der Liga für Teilhabe. Der Verband sei weder Vertreter der Kostenträger noch der Leistungsempfänger, agiere zudem nicht nur in Reutlingen, sondern auch im Ermstal und auf der Alb. „Im Bedarfsfall bieten wir auch Hausbesuche an“, sagt Iris Loehrke. „Wir führen durch den Dschungel der Vorschriften und Gesetze, klären aber auch, welche Ansprüche Betroffene habe.“

Am Wichtigsten sei jedoch: „Wir beraten unabhängig und orientieren uns ausschließlich an den Interessen der Betroffenen“, betont Andrea Meyle. Die Beantragung von Leistungen sei ebenso Thema in den Gesprächen wie barrierefreies Wohnen, Inklusion in Schule und Kindergarten oder auch die Teilhabe am Arbeitsleben und persönliches Budget. „Viele Menschen, die jahrelang in einem Heim lebten, haben immer die Erfahrung gemacht, dass über sie bestimmt wird“, sagt Helga Jansons als Peerberaterin. Als Rollstuhlfahrerin weiß sie sehr wohl, wie es ist, mit einer Behinderung zu leben.

Beate Müller-Gemmeke zeigte sich beeindruckt von den Berichten der Betroffenen und der EuTb-Beraterinnen. Zur Frage der Finanzierung sagt Michael Donth: „Ich weiß, dass momentan in der Bundesregierung Bestrebungen laufen, das Beratungsangebot auch über 2020 hinaus zu verstetigen.“ Ihn freue „die positive Bilanz, das Angebot der EuTb ist wichtig und richtig“, sagte der CDU-Politiker. Müller-Gemmeke betont: „Wenn Inklusion ernst gemeint wird, dann braucht es diese Beratung – und die kostet nun mal Geld.“